Harisliz - Die Fahnenflucht Tassilos
Harisliz – die Handlung
Die Konzentration auf vier Rollen – Tassilo, Liutberga, Karl der Große, Herold – , ein Gesangsensemble von Mönchen und ein kleines Orchester ergab sich aus der Aufgabe, für den atmosphärischen Kirchenraum, für eine relativ kleine Spiel- und Musizierfläche neues Musiktheater zu entwerfen.. Für den Librettisten war von Anfang an klar, dass die Texte leicht verständlich, aussagekräftig und dennoch poetisch sein müssen. Die Charakterisierung der „dramatis personae“ ergab sich aus den historischen Daten, den Freiräumen der Phantasie, diese mit Leben zu füllen, und manchen Motiven aus Saars Drama. Tassilo, der sich bereits im Kloster befindet, erlebt wie im Zeitraffer die Stationen seines Sturzes. Anfangs kämpft er noch mit seinem Schicksal und vermisst seine Familie schmerzlich. Zwischen ihm und Liutberga wird nicht bloß eine dynastisch-ökonomische Verbindung, sondern echte Zuneigung angenommen – dies soll auch damals vorgekommen sein. Die Herzogin, leidend am Untergang ihres väterlichen Reichs und dem Exildasein ihres Bruders in Byzanz, macht ihrem Gatten allerdings Vorwürfe, zu lange gezaudert zu haben, nicht genug wehrhaft gewesen zu sein. In der zweiten Rückblende wird der an der Notwendigkeit von Krieg und Gewalt massiv zweifelnde Tassilo von Karl, einem brutalen, aber charismatischen und schlauen Selbstherrscher, abgesetzt. Es wird klar, dass Karl mit Liutberga eine Vorgeschichte hat – der Frankenkönig war ja 770/71 mit einer Schwester Liutbergas verheiratet gewesen, hatte diese jedoch verstoßen. Tassilos letztes Aufbegehren kommt zu spät. Liutberga verdankt er die Rettung seines Lebens und seines Augenlichts. In der letzten Szene bezichtigt sich Tassilo der Feigheit und ringt im Kloster um die Gnade der Katharsis. Der Herold, eine Marionette der Macht, lädt ihn zum Reichstag. Tassilo erkennt: „Die Weisheit ist nicht im Munde der Mächtigen. Die Weisheit ist inmitten der Schöpfung. Die Liebe ist Gott.“
O sapientia, que ex ore altissimi prodisti
Attingens a fine usque ad finem fortiter
Suaviter disponensque omnia:
Veni ad docendum nos viam prudencie.
(O Weisheit, hervorgegangen aus dem Mund des Höchsten, die Welt umspannst du von einem Ende zum Andern, in Kraft und Milde ordnest du alles; o komm und offenbare uns den Weg der Weisheit und Einsicht!) – Antiphon vom Nonnberg
Mit dem Inhalt dieses Antiphons aus dem Kloster Nonnberg in Salzburg hätten sich wohl alle Protagonisten der Oper einverstanden erklärt. Wir befinden uns nämlich im 8. Jahrhundert, in dem König Karl der Große sich erfolgreich bemüht, Europa zu einigen. Er strebt nach der Kaiserkrone und hat noch einige Eroberungskriege zu führen. Als hervorragender Feldherr, mit Taktik und Hinterlist gewappnet, allerdings auch mit einer Brutalität, die selbst für die Zeit des Mittelalters aus dem Rahmen fällt, baut er das römisch-christliche Europa zusammen. Karl hat viele Bündnisse abgeschlossen, an die er sich nur solange hielt, wie sie ihm nützlich waren.Tassilo III., Herzog von Bayern, Gründer vieler Klöster, gefangen zwischen dem Treuebund mit seinem Vetter Karl und seinen Skrupeln, sich an Schlachten zu beteiligen, wählt den Weg, die Gruppe der „Willigen“ zu verlassen. Liutberga, Ehefrau Tassilos und Tochter des Langobardenkönigs Deisderius, dagegen will, dass der Herzog sich an der Seite ihrer Familie gegen Karl stellt. Papst Stefan III. hatte die Langobarden vor seiner Haustür als „eine treulose und stinkende Nation, die nicht einmal zu den Nationen gerechnet wird und von der gewiss die Aussätzigen ihren Ursprung haben“ beschimpft, obwohl sie in der Zwischenzeit mehrheitlich ihren arianischen Glauben abgelegt und römisch-katholisch geworden waren. Aber der Weg zu Weisheit und Einsicht ist nicht identisch mit dem zur Stärkung und Ausweitung der Macht. Es ist vielleicht ein Zeitfaktor – zuerst bekriegt man „stinkende“, „ungläubige“ Nationen, um sich danach der Milde und Einsicht Gottes zu erfreuen – noch heute glauben manche, die Demokratie müsse durch Krieg eingeführt werden.
Die seelischen Zustände Tassilos nach seiner Verurteilung und Verbannung in ein Kloster kann man sich vorstellen: Verzweiflung, Ohnmacht, Enttäuschung, Angst vor der Vernichtung seiner Familie. Dem Gescheiterten gilt unser Augenmerk. Bringt der Verlust der Herrschermacht und von deren Begleiterscheinungen ihn zu innerer Ruhe, zum Nachdenken über Herrschaft und Krieg, Zwangstaufen und Todesstrafen? Unser Herzog beginnt über sein Leben zureflektieren und dies wird der Schwerpunkt des Geschehens. Die Musik versucht, diese Stimmungsbilder aufzugreifen. Das aus 5 Bläsern, Harfe, zwei Schlagzeugern und 4 Streichern bestehende Instrumentalensemble ermöglicht eine facettenreiche Kombination von Farben, „schwebenden“ Harmonien und zarten Verbindungen. Das Sinnieren über vergangene, siegreich geführte Schlachten verliert alles Heroische und wird zur Last – und so gewinnt auch in der Musik die Trauer über das Geschehene die Oberhand. Selbst das Schlagzeug, angereichert mit außerordentlichen Instrumenten, übernimmt zum großen Teil die Rolle leisen Begleitens auf der Suche nach dem Weg von seelischer Zerrissenheit zu innerem Frieden und, in der Abgeschiedenheit des Klosters, zu Ruhe und Kontemplation.
Stilbeschreibungen
Es sind seine in den Besetzungen überraschenden, bisweilen unverhohlen bodenständigen «Stücke» von zarter Explosivkraft, unterschwellig gekräuselt von Humor und Anspielungen, in erster Linie aber aus einer guten Portion Kraft heraus entwickelt, die dem Hörer Raum und Zeit lässt, sich an eine Modulation, an eine Idee, an eine klangliche Reibung heranzuarbeiten.
Grassls Musik ereignet sich im geschlossenen Raum zunächst so zurückhaltend wie ihr Hervorbringer in Person. Scheu, ein wenig linkisch, in Schritt und Geste ein Dirigent, der geradewegs aus seinem ästhetischen Kräutergarten zu kommen scheint, so versteht sich Grassl als Vermittler.
Grassl entzieht sich einer künstlerisch -ästhetischen Einordnung nach den unwägbaren Regeln schöpferischer Chamäleonistik. Er entfaltet seine Techniken, seine Eingebungen in enger Wechselbeziehung zur musikalischen, ja musikantischen Praxis. Das heißt: nach Notation und Eigenart ist seine Musik lesbar und spielbar. Selbstverständlich ist sie nicht leicht, schon gar nicht gefällig. Sie ist anschaulich in seiner beschaulichen Spezialisiertheit. Sie ist begreifbar in der Klarheit technischer Prozesse und im hörbaren, spürbaren Zusammenhang zwischen Idee und werkspezifischer Umsetzung.
Wien Modern 1995, Programmheft, Führung, Rührung, Berührung. Der Komponist Herbert Grassl – Versuch einer Fühlungnahme, von Peter Cossé
Wäre das Schaffen dieses Komponisten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, könnte man ihn nur negativ bestimmen: auf immer wieder vorkommende Formen der Abweichung, die sich durch die Kompositionen von Herbert Grassl ziehen.
Auch im Eingängigen ist seine Musik gewissermaßen mit kleinen Widerhaken versehen, demgegenüber auch im Widerborstigen unprätentiös und sinnfällig, unbotmäßig das Eigene suchend und sich in ihrer Individualität immer wieder aufs Neue behauptend. Als es in einer frühen Messe, die während des Studiums am Salzburger Mozarteum bei Cesar Bresgen entstand, für jede Stimme ein eigenständiges rhythmisches Konzept gab und die Taktstriche fehlten, war der Lehrer über diese ausufernde Eigenständigkeit „schockiert“– eine Eigenständigkeit, die sich auch in den späteren Konzeptionen von Herbert Grassl erhalten hat. Die darin entwickelte Gliederung der Zeit arbeitet deren Kontinuum immer wieder mit kurzen rhythmischen Zellen und asynchronen Schlägen entgegen, so dass sich – gerade auch im Handfesten, Kernigen – eine Destabilisierung von etwas scheinbar Stabilem ergibt. In ihrem Tonfall und Duktus ist die Musik oft von Brüchigkeit bestimmt, mit all deren Unwägbarkeiten und diffusen Perspektiven.
Denn es geht in ihr immer auch um die Annäherung an Grenzwerte, wobei sich deren Abweichungen und Eintrübungen als unmittelbarer Ausdruck einer gesellschaftspolitischen Haltung des Komponisten verstehen lassen: „Es gibt eine Tendenz in der Gesellschaft, eine Marschrichtung zu definieren, die alle mithalten müssen.“
Insofern ist die Arbeit mit Brüchen und Störungen auch ein Versuch, solche Tendenzen zu hintergehen, ein Ausdruck der Weigerung, die allgemeine „Marschrichtung“ mitzumachen und ein Plädoyer für die Vielfalt. Während eine widerständige und engagierte Haltung in Herbert Grassls Werk immer wieder zum Vorschein kommt – „Der Mensch in der Revolte“ ist der Übertitel einer Werkgruppe –, sind deren Ergebnisse doch primär musikalischer Natur. So lassen sich auch in „Leicht verstimmt…“, Fünf Stücke für Ensemble (1995) die kurzen Einfälle, die immer wieder durchdringen und dann wieder verstummen, sowie deren gegenseitige Einflussnahmen als Sich-Abarbeiten von widerständigem Material verstehen. Das symmetrisch aufgestellte Ensemble nimmt dabei klangliche Modifikationen prägnanter Gesten vor und unterliegt vielfältigen Wechselwirkungen, wenn eine Aktion als unmittelbares Ergebnis eine andere hervorruft oder sich Abweichungen – „Verstimmungen“ – auf engstem Raum ergeben. Was der Komponist über das dritte der fünf Stücke formuliert hat, gilt auch für das gesamte Werk: „Die ,Verstimmung‘ ist real – durch Verwendung von Mikrointervallen –, aber auch im erweiterten Wortsinne einer seelischen ,Grundstimmung‘ zu verstehen.“
Ähnliche Verstimmungseffekte wie in „Leicht verstimmt…“ kehren im Werk von Herbert Grassl häufig wieder: Im Orchesterstück 7 (2000) etwa vollziehen mehrfach ganze Instrumentengruppen ein gleichzeitiges, langsames Glissando, so dass sich der Eindruck ergibt, das ganze Orchester „verstimme“ sich stellenweise. Auch gegenläufig kommen solche Glissandi vor, die den Tonraum dann aufspreizen; ihre Auflösung in schrittweise Bewegungen bildet ein Bindeglied für mehr motivisch bestimmte Gesten. Eine „Verstimmung“ im seelischen Sinn liegt der Komposition „Transit“ für siebzehn Bläser, Schlagzeug und drei Hörstationen (2002) zu Grunde: Hier geht es ganz konkret um den ausufernden Transitverkehr durch Tirol: Von einer CD kommen dabei Aufnahmen, die der Komponist an drei Stationen auf dem Weg über den Brennerpass gemacht hat: Drei Teile des siebensätzigen Werkes beschreiben eine „akustische Reise über einen Pass, durch ein Land, das, seit es Aufzeichnungen gibt, als Hindernis auf dem Weg von Norden Richtung Süden und umgekehrt erlebt wird.“ Abwechselnd mit diesen drei aus dem aufgenommenen Straßenlärm generierten „Hörstationen“ spielt das zeitweise ähnlich wie eine Blasmusikkapelle gesetzte Ensemble einen aus der Fassung geratenen Marsch, einen von aggressiven Schlägen durch setzten Satz, einen schwebungsreichen „Traum“ und am Ende einen wie aus der Ferne erklingenden „Jodler“. Dieser Schlusssatz steht zwar unter dem Titel „Daheim“, doch macht seine Musik deutlich, dass es sich dabei nur um eine gestörte oder gar zerstörte Heimat handeln kann, zumindest aber um eine, die mit einem großen Fragezeichen versehen wurde. Denn das unverhohlen pessimistische Ende wird in die Tiefe gerissen.
Wie in „Transit“ arbeitet Herbert Grassl vielfach mit tonalen Anklängen, die aber stets in Frage gestellt werden, wie auch die diatonische Melodik. Solche Beschränkung im Material kann, wie der Komponist meint, „unter Umständen auch einen Dreiklang interessant machen“, gleichermaßen reine Quinten, die er als „frech“ empfindet. So scheut er denn auch Reminiszenzen an die Welt der ländlichen Blasmusik nicht, konfrontiert diese aber wie die tonalen Mittel immer mit einem erweiterten Klangspektrum. In den Movements für vier Schlagzeuger (2006) sind es etwa eine kleine und eine große Trommel, die mit ihren marschartigen Rhythmen an die jahrelangen Erfahrungen des Komponisten in der Blaskapelle in seiner Südtiroler Heimat und den Dienst in der Militärmusik erinnern. Doch auch wenn diese immer wieder kraftvoll hervorbrechen, tun sie dies nie plump auftrumpfend, sondern stets in der einen oder anderen Weise gebrochen. Und auch der Marsch an sich kann jederzeit ins Stolpern geraten und ins Groteske kippen wie etwa in der Marsch-Persiflage „Frisch voran…!“(1989).
Neben dieser Auseinandersetzung mit der musikalischen Umwelt hat der Komponist vielfach Musik für den öffentlichen Raum geschaffen: mit den gemeinsam mit Otto Beck entwickelten Klangmobilen (1991), vier Dreiräder mit Pedalen und eingebauten elektronischen Studios, die in verschiedenen Städten eingesetzt wurden, für den Marmorsteinbruch seiner Heimatgemeinde Laas, in Parks und auf Plätzen großer Städte oder bei den Weltmusiktagen in Seoul (1997). Waren einige dieser Projekte eigens für die jeweiligen Aufführungsorte konzipiert, so hat sich Herbert Grassl auch sonst eingehend mit dem Raum befasst: Im Reflexionen-Zyklus (1983-96) für jeweils verschiedene Soloinstrumente (Bassklarinette, Violine, Sopransaxofon, Klavier) arbeitet er mit in den Raum projizierter Live-Elektronik, die die vom Instrumentalisten gespielten Klänge auf vier Kanälen modifiziert und verfremdet, dabei dialogisch auf sie reagiert und so die instrumentale Einstimmigkeit zu polyphonen Gebilden auffächert. Die Bewegung der Musiker im Raum spielt in einer ganzen Reihe von Werken eine Rolle, wenn Herbert Grassl in „Andante für Violine solo“ die geläufige Tempobezeichnung wörtlich nimmt und im Gehen gespielt werden muss. Während sich der Instrumentalist in diesem ähnlich wie auch das Streichquartett „Andare“(1999) choreographisch konzipierten Stück den zurückgelegten Weg selbst einteilen kann, dabei aber das Publikum nach Möglichkeit umkreisen soll, macht er an acht Pulten Station und spielt dort die virtuoseren Passagen. Dass dieses räumliche Denken auch innermusikalisch eine große Rolle spielt, zeigt sich etwa in „Cammino interrotto“ für kleines Orchester (2000), wenn die doppelt besetzten Instrumente des Kammerorchesters räumlich getrennt positioniert sind und für Echowirkungen eingesetzt werden – ein im Schaffen von Herbert Grassl häufig zu beobachtendes Verfahren, bei dem Klänge sozusagen manipuliert werden, indem ihr Nachhall durch andere Instrumente simuliert wird, die häufig in einem symmetrischen Verdopplungsverhältnis zueinander stehen. Im als Auftragswerk der Paul-Hofhaymer-Gesellschaft entstandenen Liederzyklus „Der Traum ist ein Papier“ für zwei Countertenöre, Schlagzeug und Violine (2006) erlangt eine ähnliche musikalisch-strukturelle Verdopplung auch programmatische Bedeutung. In diesen Vertonungen von Gedichten des schizophrenen Gugginger Künstlers Ernst Herbeck liegen die Parts der zwei Countertenöre zunächst eng zusammen und bewegen sich dann auseinander, um die Gespaltenheit des Individuums auszudrücken: Beide Sänger singen phasenweise dieselbe Linie, dann treten unterschiedlich starke Abweichungen in der Linienführung auf, sei es in der Rhythmik, in mikrotonalen Abweichungen oder mit kleinen Glissandi. Häufig bewegt sich auch der Part eines Sängers, während der andere auf demselben Ton verharrt, einer singt denselben Ton kurz und spitz an, den der andere – halb gesungen, halb geflüstert – aushält oder ein Countertenor bildet mit isolierten Phonemen Klangschatten zur Gesangslinie des anderen. Hier wird die Stimme ebenso instrumental verwendet wie in „Sappho“ für Countertenor, vier Echostimmen, Horn, Schlagzeug und Streichquartett (2003), wo die Echostimmen nur mit Vokalen, tonlosem Klang des Atems oder summend in Erscheinung treten. In beiden Fällen ist es das Ziel, klangliche Unschärfe wie bei Fotos zu erzielen bzw. den Kontrast zwischen scharf und unscharf im Wechselspiel auszureizen.
Im Wechsel zwischen den musikalischen Gattungen, der Herbert Grassl auch zu mehreren szenischen Werken geführt hat, ist er zu einer hinsichtlich der Besetzung, der zeitlichen Ausdehnung und der Gedankenschwere gewichtigen Komposition gelangt, die sich – wie fast alle seine Stücke – wiederum auf das Gehen, nun aber auf den «letzten Gang» bezieht: das Oratorium „Überschreitungen“ (2004) für Alt, Bass, zwei sechzehnstimmige Chöre und zwei Orchester, dem der Komponist ein Zitat von Thomas Bernhard vorangestellt hat: „Gleich, worüber wir uns amüsieren, uns beschäftigt doch immer nur der Tod.“ In dessen sechs Teilen umkreisen die unterschiedlichsten Texte die Thematik: das Gedicht „El viaje definito“ (Die endgültige Reise) von Juan Ramón Jiménez, ein Erlösungsmythos aus einem ägyptischen Totenbuch, der lateinische, liturgische Tenebrae-Text sowie Auszüge aus den biblischen Psalmen. Die Texte verbindet – in all ihrer Verschiedenheit – der Leitgedanke des Gehens, der letzten Reise: „In Überschreitungen geht es um den Gedanken an den Tod, den wir in unserer Spaßkultur zu verbannen versuchen und dem wir trotzdem auf Schritt und Tritt begegnen.“ Nach einem resignativen Eingangssatz zum Text von Jiménez schildert im doppelchörig aufgebauten Werk die ägyptische Erzählung eine Situation nahe dem Tod, doch voller Hoffnung, während sich das Violoncello bildhaft hochhebt; die folgende Station führt bereits in die Unterwelt. Nach Golgatha, einer instrumentalen Passionsmusik als Darstellung des Kreuzwegs, steht am Ende des bekenntnishaften Werks eine Kombination von Auszügen aus den Psalmen 16, 49 und 88, wobei die Zeile „Behüte mich Gott, denn ich vertraue dir» als Leitgedanke fungiert. „Dieser Psalm beinhaltet für mich ein ungeheures psychisches Reservoir. Ich sehe ihn aber nicht nur von seiner religiösen Seite.“ Das hier zum Ausdruck kommende Urvertrauen wird allerdings durch die anderen Texte beeinflusst und in der Schwebe gehalten, auch in Frage gestellt: Während die Zeile „Behüte mich Gott, denn ich vertraue dir» im Solo-Alt wie ein Kehrreim wiederholt wird, enthalten die dazwischen gesetzten Bass-Soli und Chorstellen Visionen von Untergang und Tod. So bleibt dieses Werk, das trotz seiner Gattungsbezeichnung kein Oratorium im herkömmlichen Sinn darstellt, sondern, wie vieles in der Musik von Herbert Grassl, vielmehr eine Symbiose von äußerst gegensätzlichen Inspirationsquellen und Inhalten, ähnlich wie die symphonischen Entwürfe Gustav Mahlers, letztlich in der Schwebe zwischen Ausweglosigkeit und Hoffnung und in seiner Aussage offen.
Textauszug aus:
Daniel Ender: Der Wert des Schöpferischen. Der Erste Bank Kompositionsauftrag 1989–2007. 18 Porträtskizzen und ein Essay. Sonderzahl Verlag 2007.
© Daniel Ender, alle Rechte vorbehalten.
Konzerteinführung von Rainer Lepuschitz im Rahmen der Uraufführung des 4. Streich-quartetts in der Stiftung Mozarteum am 27. Februar 2018
Im Mozart-Jahr 1991 begann sich Herbert Grassl kompositorisch mit der Gattung des Streichquartetts auseinanderzusetzen. Äußerer Anlass zur Komposition des ersten Streichquartetts war die Einhausung des Mozartdenkmals mit Einkaufswägen durch den bildenden Künstler Anton Thuswaldner, der sich daraufhin einer medialen und politischen Hetzjagd ausgesetzt sah. Von den aggressiven Reaktionen der Öffentlichkeit auf Thuswaldners Einhausung, mit welcher der bildende Künstler die kommerzielle Ausbeutung Mozarts in dessen 200. Todesjahr thematisierte, zeigte sich Herbert Grassl schockiert. Er widmete sein erstes Streichquartett Anton Thuswaldner. Im Verlauf des Werkes klingt mehrmals ein Zitat aus einem Mozart-Werk für Streicher gut erkennbar in kurzen Splittern an. In diesem ersten Werk für Streichquartett tritt Grassls damals bevorzugte Kompositionsweise zutage, in mehreren Phasen musikalische Veränderungen zu entwickeln. Dabei bringt er auch immer wieder neue musikalische Materialien ins Spiel. Die deutlich voneinander unterschiedenen Phasen werden dennoch mit einem synthetischen Zusammenhalt verbunden.
Einer der Mitwirkenden im Ensemble der Uraufführung von Grassls Streichquartett Nr. 1 war der Geiger Frank Stadler. Dessen zwei Jahre später gegründetes Stadler Quartett nahm und nimmt an den weiteren drei bisher entstandenen Streichquartetten Grassls regen Anteil, einerseits durch Anregungen zur Komposition und beratende Tätigkeit in Fragen der Spieltechnik und Klanggestaltung während der Entstehungszeit, andererseits durch Aufführungen. Sowohl das dritte, als auch das 2017 entstandene vierte Streichquartett komponierte Grassl speziell für das Stadler Quartett, dessen phan-tastische Spielweise und große Erfahrung mit Neuer Musik der Komponist sehr schätzt. Für drei der vier Musiker hat Grassl auch schon Solostücke komponiert, in denen er in enger Zusammenarbeit mit den Interpreten Informationen über die spezifischen Spielarten von Streichinstrumenten sammeln konnte.
Das 1999 entstandene zweite Streichquartett mit dem Beinamen „Andare“ fällt etwas aus der Reihe der Grassl-Quartette. Das im Titel angesprochene „Gehen“ ist wörtlich genommen, da die beiden Geiger und der Bratschist während der Aufführung spielend im Raum wandern und nur der Cellist in der Mitte des Geschehens sitzt und seinen eigenen Part innerhalb dieser musikalischen Choreographie ausführt.
Im 2010/11 komponierten dritten Streichquartett, das vom Stadler Quartett uraufgeführt wurde, erprobte Grassl eine auch schon in anderen Werken angewendete Form, die er „Ritornell“ nennt, wobei diese Bezeichnung nur wenig mit dem barocken Ritornell zu tun hat, jenem immer wiederkehrenden, durch Zwischenspiele getrennten thematischen Hauptteil vor allem in konzertanten Werken. Grassls „Ritornell“ bezieht sich auf Kompositionsteile, die in der immer gleichen Reihenfolge wiederkehren, dabei aber verändert, verkürzt oder auch verlängert sind, sich von ihrem ursprünglichen Charakter entfernen und asymmetrisch angelegt sind. Ein Thema, an dem diese Veränderungen durchgeführt werden, gibt es nicht. Die Veränderungen sind an der Atmosphäre der Musik, an Spieltechniken und Klangkonstellationen festzumachen.
Auch im 2017 komponierten, vierten Streichquartett wird man konkrete thematische Gestalten und Gestaltungen vergeblich suchen. Es geht Grassl auch in diesem Werk besonders um die Ausfüllung von Räumen, Klangräumen, Tonräumen, Formräumen.
Dabei kommt der Mikrotonalität eine maßgebliche Funktion zu. Ganztöne und Halbtöne sind nur mehr notierte Markierungen innerhalb eines verfeinerten und ver-schwimmenden Tonspektrums. Im vierten Streichquartett gibt es beispielsweise eine Passage, in der in ganz langsamen Glissandi eine Instrumentalstimme in Sechszehntel-noten vom Ton „g“ zum Ton „a“ und eine andere Stimme vom Ton „h“ zum Ton „a“ verläuft. Auf diese Weise wird der Raum einer Terz mit all seinen Mikrotönen erfüllt und am Ende auf einen einzigen Ton, das „a“ konzentriert. Oder in einem homophon angelegten Mittelteil, der bloß aus Achtelnoten besteht, haben die einzelnen Instru-mentalstimmen der Geigen und der Bratsche zur gleichen Zeit eine verschiedene Anzahl von Tönen – 9, 11, 13 – zu spielen. Durch die Überlappungen entsteht auch hier Mikrotonalität. In der Bassstimme des Violoncellos gibt es dazu einen exotisch klingenden Tanzrhythmus. Das mikrotonale Klangfeld der drei anderen Streich-instrumente liegt über dem rhythmischen Geschehen und bildet permanent neue Harmoniken. Es geht hier mitunter um extrem langsame Übergänge, die während des Hörens gar nicht wahrzunehmen sind. Aber am Ende einer solchen Phase merkt man dann, dass sich etwas verändert hat.
Solche verfeinernde und differenzierende tonale und klangliche Ereignisse sind in Grassls Musik ein gestalt- und formprägendes Element. Ein anderes ist die Artikulation und Spieltechnik. So organisiert der Komponist typische, den Klang verändernde Streicherspielarten wie das „sul ponticello“ (Bogen in nahen Abständen zum Steg) oder das „Vibrato“ durch Einteilung in Grade von 1 bis 5, wodurch das tonale, harmonische und klangliche Geschehen bis in kleinste Mikrofasern erfasst wird. Auch das Pizzicato setzt Grassl in vielen verschiedenen Spielarten gestaltbestimmend ein, von weichen Pizzicati mit anschließendem Glissando bis zu ganz kurzen, trockenen gezupften Tönen oder auch Pizzicati, in denen mehrere Töne gleichzeitig gezupft werden.
Alle diese verschiedenen Verfeinerungsmaßnahmen stehen aber auch in einem funktionalen Verhältnis zueinander, indem verschiedene Teile mit ihnen verknüpft und ineinander geführt werden oder auseinander hervorgehen.
Im vierten Streichquartett findet sich auch eine sehr impulsiv Passage, die melodisch eingeläutet und dann auf ganz schnelle, kurze Bewegungen reduziert wird. Grassl setzt Schläge, die von den vier Instrumenten nicht ganz gleichzeitig erfolgen, sondern eine Tontraube vorweg oder ein Klangereignis hintan enthalten. Aus der Folge solcher Schlag-Gebilde entsteht eine Art Marsch, allerdings ein unregelmäßiger, a-rhythmischer Marsch, denn der gleichförmigen, einpeitschenden Funktion eines Marsches verweigert sich Grassl.
Das vierte Streichquartett klingt mit einem relativ harmonischen Satz aus: eine Erinner-ung, ein Anklang an die traditionelle musikalische Form von Melodie und ihrer Beglei-tung. Das in Harmonie Gefasste geht aber wiederum in ein Glissando über und wandert zu einer nächsten Harmonie. Verfeinerung spielt sich bei Grassl sowohl in kleinsten mikrotonalen Verästelungen, als auch in größeren Formaten und Bewegungen der einzelnen formbildenden Teile ab. Musik vom Feinsten.
Das vierte Streichquartett ist Gottfried Franz Kasparek gewidmet, dem Librettisten von Grassls Oper „Harisliz – die Fahnenflucht Tassilos“. Herbert Grassl, der 1948 in Laas in Südtirol geboren wurde, wirkt und lebt seit seiner Studienzeit in Salzburg, wo der Kompositionsschüler von Cesar Bresgen, Boguslaw Schaeffer und Irmfried Radauer am Salzburger Mozarteum dann selbst eine Professur innehatte. In seinem unermüdlichen Einsatz für ein gedeihlichen Leben Neuer Musik in der Mozartstadt war Grassl viele Jahre Mitorganisator des Festivals „Aspekte Salzburg“ und leitete das Österreichische Ensemble für Neue Musik. Sein eigenes kompositorisches Schaffen enthält mittlerweile 156 Werke, darunter Orchesterwerke u. a. für das RSO Wien, das Mozarteumorchester Salzburg und das Orchester des Saarländischen Rundfunks, des Weiteren Kammermusik für verschiedene Besetzungen wie etwa ein Quartett für Oboe und Streichtrio, Chor-Instrumentalwerke wie „La simila pintura“ und die „Trauerkantate 1914–1918“, Lieder, A-Cappella-Chorwerke wie „Eine Alpensingphonie“ und die Opern „Pygmalion“ und „Sheherazade“.